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Der Baldwin-Effekt und die Adulte Hippocampale Neurogenese

Der Baldwin-Effekt und die Adulte Hippocampale Neurogenese

Eine evolutionäre Erklärung für die beim Menschen lebenslang stattfindende adulte hippocampale Neurogenese und die Entwicklung des mentalen Immunsystems

— von PD Dr. Michael Nehls, Dezember 2024

„Adulte hippocampale Neurogenese gibt es nicht!“ schallte es mir nach meinem Vortrag über die Neubildung von Nervenzellen bei Erwachsenen und deren Bedeutung für die mentale Gesundheit entgegen. Der Einwurf, rasch gefolgt vom Hinweis auf die wissenschaftliche Expertise der Kritikerin, überraschte mich nicht – Forschern, welche die sogenannte „Adulte hippocampale Neurogenese“ (AHN) nachweisen, dazu forschen oder die Öffentlichkeit über entsprechende Forschung aufklären weht schon seit ihrer Entdeckung aus Richtung mancher Neurowissenschaftler verblüffenderweise ein eisiger Wind entgegen.

Doch dieser Moment brachte mich in anderer Hinsicht zum Nachdenken: In meinen umfassenden Buchveröffentlichungen habe ich die Frage bereits eingehend behandelt, aber es fehlt ein kompakter Beitrag, der die wesentlichen Argumente für jeden nachvollziehbar auf den Punkt bringt.

In diesem Artikel erfahren Sie also, ob die (AHN) tatsächlich nur ein evolutionäres Überbleibsel ohne Funktion ist – wie Kritiker behaupten – oder ob sie nicht vielmehr eine Schlüsselrolle für unsere geistige Flexibilität und Anpassungsfähigkeit bis ins hohe Alter spielt. Einige spannende neue Aspekte, die ich in meinen Büchern bisher nicht berücksichtigt habe, werden vielleicht auch für Sie auch neu sein, selbst wenn Sie diese bereits gelesen haben.

Neue Nervenzellen für neue Verhaltensweisen – auch im höheren Alter

Die Entdeckung der adulten hippocampalen Neurogenese (AHN) durch den ungarisch-amerikanischen Neurobiologen Joseph Altman (1925–2016) im Jahr 1962 legte nur den Grundstein für unser sich ständig erweiterndes Verständnis ihrer Existenz und Funktion.[1] Altman und sein damaliger Student Gopal D. vermuteten, dass die von ihnen beobachteten neugebildeten Nervenzellen die „modulierenden und plastischen Elemente“ der Reaktion eines Tieres auf seine „vielfältige äußere Umgebung“ sein könnten – sprich dass sie also dem Lernen und der Verhaltensanpassung in einer sich ständig wandelnden Umwelt dienen.[2] Als unabhängiger Forscher am MIT (Massachusetts Institute of Technology) wurden seine Ergebnisse nach eigener Aussage weitgehend ignoriert, zugunsten der Erkenntnisse des jugoslawisch-US-amerikanische Neurowissenschaftlers Paško Rakić, laut dem die Neurogenese auf die pränatale Entwicklung beschränkt sei.[3] „Viele Jahre lang wurde das Konzept der adulten Neurogenese von einflussreichen Persönlichkeiten der Neurowissenschaften abgelehnt und marginalisiert“, wie ein Review aus dem Jahr 2020 über Die Entdeckungsgeschichte der adulten Neurogenese uns wissen lässt, „wobei sie manchmal so weit gingen, die Studien zu zensieren und persönliche Angriffe gegen ihre Befürworter zu starten.“ Ende der 1990er Jahre kam es zu einem Paradigmenwechsel – doch an der harschen Kritik hat sich nichts geändert: Es kann nicht sein, was nicht sein darf.

Die Tatsache, dass das Gehirn auch im Erwachsenenalter neue Nervenzellen bilden kann, wurde 1999 von Elizabeth Gould wiederentdeckt und avancierte schnell zu einem der heißesten Forschungsgebiete der Neurowissenschaften.[4] Bis in die heutige Zeit finden sich sowohl weiterführende, bestätigende Studien zum Thema, als aber auch weiterhin kritische Stimmen. So ist Rakić weiterhin Anhänger der These, dass die AHN – aller gegenteiligen Hinweisen zum Trotz – überhaupt keine Funktion hat; wenn es sie bei uns Menschen überhaupt gebe, sei sie höchstens als rudimentäres evolutionäres Überbleibsel eines Gewebereparaturmechanismus einfacher Gehirne zu verstehen. Lebewesen mit komplexen Gehirnen seien nach Abschluss der neuronalen Entwicklung – einem neurologischen Blinddarm gleich – nutzlos oder wenigstens nahezu nutzlos, so Rakić.[5] Dass ihre Funktion nicht wie bei einfacheren Gehirnen in der Reparatur liegen kann, ergibt sich bei näherer Betrachtung aber schon daraus, dass Nervenzellen in komplexen Gehirnen Zehntausende von Verbindungen zu anderen Nervenzellen eingehen. Da diese alle auf den Erfahrungen des Individuums beruhen, ist es ausgeschlossen, dass einzelne Nervenzellen ausgetauscht werden können, ohne dass diese ihre spezifische Funktion oder die gespeicherten Erfahrungen verlieren.

Allerdings bevorzugt Rakić ohnehin die Ansicht, dass es die AHN bei uns Menschen nicht einmal in Rudimenten gäbe. Seine Begründung: Unser Gehirn ziehe Stabilität gegenüber Plastizität vor, um seine Aufgaben zu erfüllen. In seinen Worten (Übersetzung ins Deutsche von mir): „Eine stabile Nervenzellpopulation bei Primaten, einschließlich des Menschen, kann für die Kontinuität von Lernen und Gedächtnis während der gesamten Lebensspanne wichtig sein.“ In einem Artikel aus dem Jahr 2008 heißt es daher, dass diese Verringerung der adulten Neurogenese „dem Übergang von unvorhersehbarem zu vorhersehbarem Verhalten in der Adoleszenz entspricht, wie es für das Verhalten von Säugetieren nach Erreichen der Fortpflanzungsfähigkeit typisch ist“.[6]

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Evolutionäre Gesichtspunkte der Adulten Hippocampalen Neurogenese

Doch dieses wichtigste konzeptionelle Argument gegen die Existenz einer AHN im Menschen – also dass etablierte neuronale Netze stabile neuronale Verknüpfungen benötigen und das Hinzufügen neuer Nervenzellen die Stabilität des Netzes und damit die Denkfähigkeit stören würde – wurde sowohl durch Simulationen in Computernetzwerken[7] als auch durch Verhaltensstudien[8] widerlegt. Rakićs restriktiver Auffassung widerspricht die Tatsache grundlegend, dass gerade höhere Säugetiere nicht nur bis ins hohe Alter neues Verhalten lernen können, sondern offenbar auch darauf angewiesen sind. Es widerspricht auch vollends dem wissenschaftlichen Konzept der „Evolution der Großmutter“, also der evolutionären Begründung dafür, dass aus erwachsenen Frauen einst Großmütter werden, die auch nach dem Ende ihrer eigenen Fortpflanzungstätigkeit noch viele Jahrzehnte leben, um auch ihre Enkel zu unterstützen und letztlich deren Überlebenschancen zu verbessern. Kurz: Dieses Konzept bezeichnet den evolutionären Vorteil von transgenerational reproduktivem Erfahrungswissen, das die außergewöhnliche Langlebigkeit des Menschen erklärt.[9] Der deutsche Mediziner Gerd Kempermann und einer der weltweit eminentesten Forscher der AHN, sowie viele seiner Kollegen vermuten sogar, dass sich die AHN in Säugetieren spezifisch entwickelt hat. Als Grund für diese Annahme führen sie ins Feld, dass sie „wenig Ähnlichkeit mit der diffuseren Neurogenese auf[weist], die in den entsprechenden Strukturen bei Nicht-Säugetieren zu finden ist“.[10] Sie vertreten in Folge die These, dass das AHN eher „eine fortgeschrittene Lösung für eine bestimmte Netzwerksituation darstellt, die dem Hippocampus zusätzliche spezialisierte Funktionen verleiht – auch dem menschlichen“. Diese hohe Lern- und Anpassungsfähigkeit auf eine neue „Netzwerksituation“, wie sie hier genannt wird, beschreibe ich insbesondere im Hinblick auf uns Menschen als die gesamte Funktionsbreite des mentalen Immunsystems (siehe Abbildung).

Funktionale Argumente für die Existenz der Adulten Hippocampalen Neurogenese

Das Problem der Quantifizierung und die Bedeutung der Qualität

Eine wesentliche Aufgabe dieser neu entstehenden hippocampalen Nervenzellen ist, als Orts- und Zeitgedächtnis alle autobiographische Gedächtnisinhalte im vierdimensionalen Raum-Zeit-Kontinuum unserer Existenz zu verankern. Indem sie für jede Erfahrung, jeden Gedanken und jeden unserer Pläne, Träume und Hoffnungen einen spezifischen Index anlegen, ermöglichen sie uns, Erinnerungen jederzeit gezielt abzurufen. Sie bilden damit die Grundvoraussetzung für die Entwicklung von Selbstbewusstsein, für die Fähigkeit zur Reflexion und für die kreative Planung und Visualisierung zukünftiger Aufgaben und deren Umsetzung. Diese Orts- und Zeitneuronen, die ich wegen ihrer funktionellen Kombinatorik, in der sie der Rekonstruktion unserer Erinnerungen dienen, auch als Indexneuronen bezeichne, ermöglichen uns die Unterscheidung zwischen Vergangenheit, gegenwärtigem Erleben und unseren Zukunftsplänen, die ebenfalls im Hippocampus gespeichert sind.[11] Nur so wissen wir genau, was wir tatsächlich selbst erlebt haben, was wir von anderen erfahren haben – oder was wir uns nur eingebildet haben. Sie sind also instrumentell, damit ein Mensch zwischen fremder und eigener Erfahrung zu unterscheiden vermag und so zu einem autonomen Individuum werden kann.[12] Ohne diese funktionellen Eigenschaften der Indexneuronen käme es zu dem, was Neurologen (und mittlerweile auch KI-Forscher) als katastrophale Interferenz bezeichnen: Tagträume und echtes Erleben kollidieren und werden ununterscheidbar wahrgenommen. Für Menschen, die an Schizophrenie leiden (was sich ursächlich auf eine Entwicklungs- oder Reifestörung des Hippocampus zurückführen lässt) könnte dies ein wesentliches Problem ihrer Erkrankung darstellen.[13]

Auch wenn sich die Wissenschaft (Stand Herbst 2024) noch nicht abschließend einig geworden ist, wie viele Nervenzellen im Hippocampus täglich neu gebildet werden – je nach Methodik und herangezogenem „menschlichem Material“ sind es mehrere Tausend oder vielleicht auch nur einige Hundert –, spielen sie eine entscheidende, meines Erachtens sogar die zentrale Rolle für das Funktionieren unseres mentalen Immunsystems. Schon im Jahr 2018 konnten Kempermann und Kollegen die Diskrepanzen zwischen den verschiedenen Studienergebnissen, also sehr hohe Produktionszahlen der AHN bis ins hohe Alter einerseits versus eher geringe AHN-Produktionszahlen andererseits, klären und dies in einem Übersichtsartikel darlegen.[14] Sie weisen in dem Zuge auch darauf hin, dass unabhängig von einer verbindlichen Zahl, die zukünftige Studien möglicherweise bei optimal gesunden Menschen altersabhängig als Normwerte werden ermitteln können, gar nicht die Quantität (also die Zahl), sondern die Qualität der neu gebildeten Nervenzellen entscheidend ist. Denn im Gegensatz zum übrigen Netzwerk des Hippocampus, so schreiben sie, „konzentriert sich die synaptische Plastizität [Lern- und Anpassungsfähigkeit] im Gyrus dentatus [bzw. im Eingangsbereich des Hippocampus, wo die Neurogenese lebenslang stattfindet] auf eine definierte, funktionell naive [frische und noch ungenutzte] Untergruppe von (neuen) Neuronen“. Dieser einzigartige Mechanismus der Fokussierung von Plastizität unterscheide dieses neuronale Netzwerk von allen anderen bisher untersuchten. Sie schließen daraus, dass „die Anzahl neuer Zellen, die für einen funktionellen Effekt notwendig ist, sehr gering ist“. Die Ergebnisse einer zuletzt mit modernsten Methoden durchgeführten Untersuchung, die im Oktober 2024 publiziert wurde, weisen auf eine zwar geringe, aber persistierende Neurogenese im Hippocampus während des gesamten Lebens hin.[15] Laut den Forschern bestätigt dies „die Existenz einer lokalen Reserve der Plastizität im Hippocampus des erwachsenen Menschen“. 

Die Bedeutung der adulten hippocampalen Neurogenese (AHN) bis ins hohe Alter wird durch eine weitere, recht aktuelle Studie besonders eindrücklich belegt – nämlich mit einer entscheidenden Voraussetzung: Der Nachweis der AHN gelingt nur bei gesunden Versuchspersonen. So zeigt die Arbeit von Boldrini et al. (2018), dass die AHN bei gesunden Menschen mindestens bis in die achte Lebensdekade fortbesteht und damit das Potenzial bietet, kognitive und emotionale Funktionen auch im Alter zu erhalten.[16] 

Insbesondere deutet die Studie darauf hin, dass eine anhaltende Neurogenese im Hippocampus möglicherweise die menschenspezifischen kognitiven Funktionen über die gesamte Lebensspanne hinweg unterstützt und dass ein Rückgang dieser Prozesse mit eingeschränkter kognitiv-emotionaler Resilienz einhergeht. Die Ergebnisse basieren auf einer umfassenden Analyse ganzer von Verstorbenen stammender Hippocampi von zu Lebzeiten gesunder Menschen im Alter von 14 bis 79 Jahren. Dabei konnten unreife und reifende Neuronen nur bei Personen ohne neurologische Grunderkrankungen nachgewiesen werden. Dies unterstreicht, dass die AHN eng mit der allgemeinen Gesundheit des Individuums verknüpft ist. Die Studie liefert damit nicht nur einen wichtigen Beleg für die Existenz der AHN, sondern verdeutlicht auch, dass ein gesunder Lebensstil essenziell ist, um die Neurogenese im Hippocampus aufrechtzuerhalten und damit die kognitive und emotionale Anpassungsfähigkeit bis ins hohe Alter zu sichern.

Das Fehlen der oder der Mangel an AHN in Gehirnen ungesunder Probanden ist Beweis dafür, dass der Lebensstil enormen Einfluss auf die mentale Gesundheit hat

Ein Ende Februar 2024 veröffentlichter Expertenbericht mit dem Titel „Auswirkungen adulter Neurogenese auf emotionale Funktionen: bei Mäusen und Menschen“ fasst zusammen, „dass es immer mehr anatomische, biochemische und genomische Belege für das Vorhandensein unreifer Neuronen im Hippocampus gesunder Probanden während des gesamten Lebens gibt.“[17] 

Auch hier ist das Schlüsselwort wieder „gesund“. Tatsächlich wurden in einer spanischen Studie im Hippocampus gesunder Probanden unterschiedlichen Alters (sogar bis zu 90 Jahren!) Tausende unreifer und heranreifender Neuronen identifiziert.[18] Auch methodisch ließ diese Studie keine Fragen mehr offen, so schreiben die Autoren in einem nachfolgenden Review: „Wir beschreiben hier ausführlich die Methoden, die in unserem Labor zum eindeutigen Nachweis einer Population unreifer Neuronen im menschlichen Hippocampus bis zum 10. Lebensjahrzehnt verwendet werden. 

Zu den Kriterien, die zur Verfeinerung und Entwicklung des aktuellen Protokolls herangezogen wurden, gehören die Beschaffung postmortaler menschlicher Proben von bemerkenswerter Qualität und unter streng kontrollierten Bedingungen für immunhistochemische (IHC) Studien, die Optimierung der Gewebeverarbeitung und histologischer Verfahren, die Festlegung von Kriterien zur zuverlässigen Validierung des Antikörpersignals und die Durchführung unvoreingenommener stereologischer Zellzählungen.“[19] 

Dass Gewebematerial von gesunden Verstorbenen entscheidend ist, zeigt auch der Befund, dass Anzahl und Reifung dieser neuen Nervenzellen im Verlauf der Alzheimer-Krankheit, die ich nach ihrem Entstehungsort als hippokampale Demenz bezeichne, erwartungsgemäß drastisch abnehmen.[20] Dies wurde in einer weiteren unabhängigen Studie in Chicago an Verstorbenen im Durchschnittsalter von 90 Jahren bestätigt: Je defizitärer die AHN, desto weiter fortgeschritten war die Alzheimer-Krankheit.[21] Laut den Autoren der spanischen Studie liefern ihre Ergebnisse sogar „Beweise für eine beeinträchtigte Neurogenese als möglicherweise relevanten Mechanismus, der Gedächtnisdefiziten bei der Alzheimer-Krankheit zugrunde liegt und für neue therapeutische Strategien zugänglich sein könnte.“[22] 

Ganz im Sinne meiner 2016 publizierten Systemtheorie der Alzheimer-Entstehung, in der ich als einer der ersten Wissenschaftler weltweit eine durch artfremde Lebensweise gestörte AHN als Kernproblem, aber auch für jeden praktikablen Lösungsansatz in der Prävention der Alzheimer-Demenz identifiziert habe.[23] Diese Auffassung wird mittlerweile von vielen weiteren Forschern geteilt. So fragen sich aufgrund dieser neuesten Erkenntnisse Gerontologen der einflussreichen Harvard Universität in Boston: „Ist Alzheimer eine Neurogenese-Erkrankung?[24]

Die Wiederherstellung der ANH und daraus resultierende Gesundheitseffekte

Mittlerweile konnte auch gezeigt werden, dass man mithilfe der Aktivierung der AHN dem Alzheimer wortwörtlich „davonlaufen“ kann. Ein wachsender Hippocampus hält uns jung, zumindest im Geiste. Somit ist es auch nie zu spät für eine „bewegte Kindheit“, wie ich es in meinem Buch „Das erschöpfte Gehirn“ ausdrücke.[25] Für eine Bewegungsstudie, in der man auf das Hippocampus-Volumen und Aspekte des mentalen Immunsystems hin untersuchte, wählten Forscher 120 im Durchschnitt etwa 70-jährige Senioren aus, die eine altersentsprechende geistige Gesundheit hatten. (Wenn man davon spricht, dass diese Probanden, die sich in den letzten sechs Monate vor Beginn der Studie nicht mehr als 30 Minuten pro Woche zu Fuß bewegt hatten, „normal“ waren, dann ist es wohl auch „normal“, dass dies leider für die meisten älteren Bewohner von Sozialwohnungen gilt.[26]) 

Anfangs wurden die Teilnehmer nach dem Zufallsprinzip in zwei gleich große Gruppen eingeteilt. Die eine Gruppe wurde aufgefordert, täglich etwa 40 Minuten zu gehen. Die andere Gruppe machte in der gleichen Zeit nur gymnastische Dehnübungen im Sitzen. Insgesamt wurden ein Jahr lang entweder Spaziergänge unternommen oder man hat sich gedehnt. Bei allen Teilnehmern wurde vor, in der Mitte und am Ende der Studie das Gehirn mit bildgebenden Verfahren volumetrisch vermessen – mit eindeutigem Ergebnis: Bei den Spaziergängern wuchs vor allem der Hippocampus in diesem einen Jahr um durchschnittlich etwa zwei Prozent (siehe Grafik), wobei die Volumenzunahme umso größer war, je fitter die Teilnehmer durch das körperliche Training im Laufe des Studienjahres wurden. Ähnliches galt für die Leistung des autobiografischen Gedächtnisses und die psychische Resilienz, beides elementare Funktionen des mentalen Immunsystems. Das Schlüsselwort ist die „psychische Resilienz“, die uns Schutz vor Alzheimer verleiht, aber letztlich eine Funktion des mentalen Immunsystems und einer aktiven AHN ist.[27] In der Gymnastikgruppe hingegen nahm das Hippocampusvolumen um ca. 1,4 Prozent ab (siehe Grafik), ebenso wie die mentale Leistungsfähigkeit.

Eindeutige Ergebnisse einer Metastudie (in der man mehrere Studien gemeinsam analysiert) unterstützen diesen Zusammenhang. So kamen US-amerikanische Wissenschaftler des Department of Psychology der University of Pittsburgh zu dem Schluss, dass „höhere kardiorespiratorische Fitnessniveaus routinemäßig mit einem größeren Volumen der grauen Substanz im präfrontalen Cortex und im Hippocampus assoziiert sind, und weniger konsistent in anderen Regionen“.[28]

Dies gilt im höheren Alter, aber auch schon in der Jugend. Dies macht auch die Ergebnisse einer internationalen Studie verständlich, nach der „eine höhere kardiorespiratorische Fitness wichtig ist, um die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen und zusätzlich die schulischen Leistungen zu verbessern“.[29]

Der Baldwin-Effekt: angeborene Verhaltensflexibilität und Lernfähigkeit bis ins höchste Alter

Da die AHN beim Menschen nachweislich bis ins hohe Alter erhalten bleibt, stellt sich also noch die Frage: Ist sie nur ein rudimentäres Überbleibsel aus der Evolution ursprünglich primitiverer Gehirne, bei denen neue Nervenzellen im Wesentlichen nur eine Reparaturfunktion beim erwachsenen Organismus erfüllten? Oder ist die AHN, wie Kempermann und Kollegen (und auch ich) schlussfolgern, eine erworbene höhere Funktion, wofür im Bedarfsfall täglich neue Zellen benötigt werden? Eine Antwort darauf könnte der so genannte Baldwin-Effekt liefern, der als erklärender Kompromiss zwischen diesen beiden Thesen von einer Gruppe von Neurowissenschaftlern aus Bordeaux, Frankreich vorgeschlagen wurde.[30] Der nach dem US-amerikanischen Philosoph und Psychologen James Mark Baldwin (1861–1934) benannte Effekt beschreibt einen Mechanismus der „ontogenetischen Anpassung“: Ein in der individuellen Entwicklung (Ontogenese) erworbenes Verhalten wird zunächst durch Nachahmung an die nächste Generation weitergegeben, verändert damit aber nachhaltig die soziale Umwelt für die nachfolgenden Generationen, bis die Lerneffekte (oder Lernfähigkeiten) möglicherweise durch genetisch verankerte Fähigkeiten optimiert werden. Mit anderen Worten: Neue soziale oder kulturelle Entwicklungen können genetische Anpassungen begünstigen, die wiederum einen besseren Umgang mit ebendiesen sozialen oder kulturellen Umständen ermöglichen. Der Baldwin-Effekt unterscheidet sich daher vom Lamarck-Effekt, benannt nach Jean-Baptiste de Lamarck (1744–1829), bei dem durch Verhalten erworbene Eigenschaften für wenige Generationen epigenetisch vererbt wird.[31]

Es handelt sich aber auch nicht um reinen Darwinismus, dessen Entdeckung auf Charles Robert Darwin (1809–1882) zurückgeht, bei dem zufällige aber vorteilhafte Mutationen durch verbesserte Fortpflanzungschancen selektiert werden.

Übertragen auf die Frage nach der Existenz der AHN eröffnet die Annahme eines Baldwin-Effekts ein evolutionäres Szenario: Menschen mit einem hochfunktionalen mentalen Immunsystem, das auf der noch rudimentär vorhandenen AHN beruhte, genossen einen sozialen Vorteil. Durch immer komplexeren Anpassungsbedarf an die in Folge geschaffenen sozialen und kulturellen Umstände, kam genau dieser neuen Funktionalität eine steigende Bedeutung zu – immerhin ist sie bis heute maßgeblich daran beteiligt, dem Menschen seinen Fortbestand zu sichern. Es handelt sich hier um eine Kombination beider Hypothesen – also der Annahme, dass die AHN zunächst tatsächlich nur ein Überbleibsel des Reparaturvermögens einfacher Gehirne ist, aber durch aufgrund sozialer Erfordernisse neuartig und erfolgreich genutzt wurde und dadurch einen Selektionsvorteil erbrachte. So liefert die Persistenz der AHN in komplexeren Gehirnen eine neue Funktionalität der Anpassungsfähigkeit, deren Inhalte (also das „Wie muss ich mich verhalten?“) zwar nicht vererbt werden (es handelt sich nicht um instinktive Verhaltensweisen), sondern durch AHN individuell erlernt oder neu entwickelt werden kann, und uns sogar die Möglichkeit der Planung und Umsetzung völlig neuer, und komplexer Verhaltensweisen erlaubt – also genau das, was ich als mentales Immunsystem bezeichne.

Da der Baldwin-Effekt es dem Einzelnen mit Hilfe einer dauerhaft aktiven AHN, überlebenswichtige oder sehr nützliche neue Verhaltensweisen zu erlernen oder auch neu zu entwickeln ermöglicht, die nicht als Automatismen oder Instinkte vererbbar sind, gehen die französischen Neurowissenschaftler daher davon aus, dass „die Fähigkeit zur Verhaltensanpassung beim Erwachsenen auf der AHN beruht“. Und sie schreiben weiter: „In diesem Review wird die Auffassung vertreten, dass [die AHN] tatsächlich einem Selektionseffekt unterworfen ist und eine Funktion im evolutionären Sinne hat. Diese Funktion muss jedoch in einem bestimmten Kontext verstanden werden, […] d.h. einer Situation in der Evolution, in der eine bestimmte Funktion nicht verschwindet, aber auch nicht genetisch fest verdrahtet werden kann, so dass sie auf individueller Anpassung beruht, die sich in jeder Generation wiederholt. Um diese Sichtweise zu verstehen, ist es wichtig zu wissen, dass [AHN] wahrscheinlich zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Evolution [vielfältige Funktionen hatte]. Seine erste Funktion war höchstwahrscheinlich die Reparatur von Gewebe in einfachen Gehirnen, in denen Neuronen mit relativ wenigen Verbindungen leichter zu ersetzen sind [32].Je komplexer ein Gehirn ist, desto schwieriger ist es dagegen zu reparieren. Es könnte also einen Punkt in der Evolution gegeben haben, an dem die Vorteile der Komplexität die Vorteile der Reparierbarkeit in bestimmten Umgebungen überwogen haben. Zu diesem Zeitpunkt muss [AHN] seine Funktion der Gewebereparatur verloren haben. Das bedeutet nicht, dass es alle Funktionen verloren hat. In der Tat kann es sich in fast allen Teilen des Gehirns zurückgebildet haben, mit Ausnahme bestimmter bevorzugter Bereiche, in denen seine Erhaltung auf einem bestimmten niedrigen Niveau die Fitness des Individuums trotz der mit der Aufrechterhaltung der Neurogenese verbundenen Kosten erhöht hat. Dies ist der Fall im Gyrus dentatus [DG] des Hippocampus.“

Zusammenfassung

Die Entstehung und Nutzung der zahlenmäßig kleinen, aber funktionell feinen Population von neuen Nervenzellen im Gyrus dentatus des menschlichen Hippocampus durch die AHN ist kein wissenschaftliches Randthema, das rein theoretische Relevanz hätte – ganz im Gegenteil ist diese Funktion von elementarer Bedeutung für unser aller Leben und unsere beeinflussbare Gesundheit. Es ist die AHN, die als Basis bzw. neuronales Korrelat des mentalen Immunsystems mit seinen vielfältigen essentiellen Funktionen (siehe Abbildung oben) meines Erachtens die Grundlage des menschlichen Wesens bildet; sie macht uns erst zu dem, was wir sind und an uns zu schätzen wissen. Das ist die Fähigkeit des Menschen, mit Hilfe seines mentalen Immunsystems neue Erfahrungen machen zu können, dies zu wollen, wissbegierig zu sein, Pläne zu schmieden und umsetzen zu können und sich durch reflektierte Erfahrung in letzter Konsequenz durch soziale Kompetenz einen Selektionsvorteil für sich selbst, vor allem aber für seine Kinder und Enkelkinder und letztlich für die soziale Gemeinschaft zu sichern – ganz im Sinne der „Evolution der Großmutter“, die auch Großvätern ermöglicht, bis ins höchste Alter geistig fit und wissbegierig zu sein.

QUELLENVERZEICHNIS

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